Historische Situation in Berlin um 1800 - abgeschlossen

Uta Motschmann


Die Stadt Berlin um 1800


Um 1800 hatte die "Haupt- und Residenzstadt Berlin" über 170.000 Einwohner. Damit stand sie an 9. Stelle aller europäischen Städte: der mit Abstand bevölkerungsreichsten Stadt, London, die nach 1800 die Millionengrenze überschritt, folgten Paris (um 1800: 584.000 Einwohner) und Neapel (1798: 442.000 Einwohner), weiterhin Wien, St. Petersburg, Moskau, Amsterdam und Lissabon.

Die Stadt wurde durch eine 1802 fertiggestellte 17 Kilometer lange Ringmauer mit 14 Stadttoren umschlossen. Berlin bestand aus den 5 Städten Berlin, Cölln mit Neu-Cölln, dem Friedrichswerder, der Dorotheenstadt und der Friedrichstadt sowie aus 5 Vorstädten: der Königsstadt, der Spandauer Vorstadt, der Stralauer Vorstadt, der Köpenicker Vorstadt (ab 1802 Luisenstadt) und der Rosenthaler Vorstadt im Norden.
Die zweite Residenz der preußischen Könige, Potsdam, liegt ca. 25 Kilometer entfernt. 1792 wurde die Chaussee von Berlin nach Potsdam angelegt - die erste gepflasterte Landstraße in Preußen. Nachdem Friedrich II. von Preußen vorwiegend in Sanssouci gelebt hatte und nur selten nach Berlin gekommen war (jedoch die bauliche Ausgestaltung Berlins vorangetrieben hatte), machte sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II. Berlin und sein Schloß wieder zum Zentrum der Residenz. Gleich nach 1786 begann der Umbau des Stadtschlosses. Friedrich Wilhelm III. hingegen blieb auch als König im Kronprinzenpalais wohnen; nur Königin Luise bezog einige Räume im Stammschloß, die für sie neu gestaltet wurden.

Die Bevölkerung Berlins setzte sich 1800 aus 146 901 Zivilpersonen (=85,4%) und 25 221 Militärpersonen (=14,6%) zusammen. Das Militär war also in der Stadt sehr präsent, aber nicht vorherrschend. Das gleiche galt von den fremden Bevölkerungsgruppen: 1800 lebten neben 138 799 Deutschen (80,6%; im Jahr 1803: 144 579 = 84%), 3 928 Franzosen (2,3%; 1803: 4382 = 2,5%), 852 Böhmen (0,5%; 1803: 531 = 0,3%) und 3 222 Juden (1,9%; 1803: 3636 = 2,1%) in Berlin (ein Großteil der Juden war um 1800 bereits zum Christentum übergetreten).
1801 lebten in Berlin 72.884 Einwohner männlichen Geschlechts und 75.116 Einwohner weiblichen Geschlechts. Es gab mehr Frauen als Männer und verhältnismäßig viele Kinder und Jugendliche (ca. 35% der Gesamtbevölkerung). Vom Hof und den Militärstand abgesehen gliederte sich die Bevölkerung in drei große gesellschaftliche Schichten: 1. Bürger; 2. Männer, die ein eigenes Hauswesen hatten; 3. Unselbständige (Gesellen, Dienstpersonal, Stadtarme).

Berlin war Sitz bedeutender kultureller, wissenschaftlicher und sozialer Institutionen: Seit 1700 bestand die Preußische Akademie der Wissenschaften (1700 als "Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften" ins Leben gerufen, trug sie ab 1812 den Namen "Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin"; 1709 kam ein Observatorium hinzu, 1754 ein Chemisches Laboratorium). 1696 wurde die "Academie der Mahl-, Bild- und Baukunst" gegründet (1704 "Königlich Preussische Academie der Künste und Mechanischen Wissenschaften"; ab 1809 "Königliche Akademie der Künste zu Berlin"). Der seit 1679 bestehende Obst- und Kräutergarten wurde 1715 als Botanischer Garten ausgebaut und 1718 an die "Societät" übergeben.
Die 1710 als Pesthaus gegründete Charité erhielt von 1785-1797 einen funktionsfähigen Neubau. 1723 wurde das Collegium medico-chirurgicum gegründet; 1795 die Medizinisch-Chirurgische Pépinière.
Von den fünf Gymnasien (Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster; Französisches Gymnasium (1689 gegründet); Friedrich-Werdersches Gymnasium; Friedrich-Wilhelms-Gymnasium; Königlich Joachimsthalsches Gymnasium) war das 1574 als Lehranstalt begründete Gymnasium zum Grauen Kloster (1767 vereinigt mit dem Cöllnischen Gymnasium) die höchste Bildungseinrichtung Berlins vor der Gründung der Universität.
Berlin besaß seit 1770 eine Bergakademie, seit 1790 eine Tierarzneischule und seit 1799 eine Bauakademie.
Zahlreiche Gründungen von Vereinigungen, Clubs und Gesellschaften fördern die Kommunikation und den geselligen Verkehr.
Die älteste Berliner Aufklärungsgesellschaft war der 1749 von Johann Georg Schultheß gegründete Montags-Club, der ein Forum für Geselligkeit und Diskussion über Standes- und Berufsschranken hinweg bot. 1783 wurde "von Freunden der Aufklärung" die Geheime Mittwochsgesellschaft gegründet, die durch die Feßlersche Mittwochsgesellschaft 1795 in erweitertem Rahmen neu belebt wurde.
Die "Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin" wurde 1773 gegründet.
Seit 1788 bestand die von Karl Christian Fasch begründete Singakademie, deren Mitglieder sich ab 1827 in einem eigenen Haus Unter den Linden, Am Festungsgraben, zu Proben und öffentlichen Auftritten trafen.
Die bedeutendste der Geheimlogen war die Freimaurerloge "Royal York de L’Amitié", die 1798 in die "Große Loge Royal York zur Freundschaft" mit vier Töchterlogen umgewandelt wurde.

Berlin war wie keine andere deutsche Stadt in dieser Zeit ein Zentrum von Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern. Besonders die Salons, die Lese- und Tischgesellschaften, die Clubs und die Logen um 1800 förderten einen Kulturaustausch zwischen Vertretern verschiedener sozialer Schichten und Religionen. Die Anzahl der geselligen Vereinigungen geht in die Hunderte. Jean Paul Friedrich Richter schreibt am 12. Januar 1801 aus Berlin an Karoline Herder:
"Hier bleib’ ich nicht. - Der Ton hier übertrift an Unbefangenheit weit den Weimar’schen. Der Adel vermengt sich hier mit dem Bürger, nicht wie Fet mit Wasser, auf welchem dieses immer oben schwimt und äugelt, sondern sie sind innig vereinigt wie diese durch Laugensalz, woraus Saife entsteht. Gelehrte, Juden, Offiziere, Geheime Räthe, Edelleute, kurz alles was sich an andern Orten (Weimar ausgenommen) die Hälse bricht, fället einander um diese, und lebt wenigstens freundlich an Thee- und Estischen beisammen."

Berlin gehörte um 1800 zu den führenden deutschen Verlagsorten. Es rückte in den Jahren von 1765 bis 1808 nach Leipzig an die 2. Stelle unter den Buchhandelsstädten (an 3. Stelle folgte Wien). In Berlin gab es 1800 27 Buchhändler, 20 Buchdrucker und 52 Buchbinder. Die größten Berliner Buchdruckereien waren die Firmen von Decker und Unger, die bis zu 90 Arbeitskräfte beschäftigten. (Während der französischen Fremdherrschaft ging die Zahl der Arbeitskräfte im Buchhandel und die Buchproduktion bis um die Hälfte zurück.)
Für den Zeitraum 1786 bis 1815 sind über 500 eigenständige Zeitschriften in Berlin nachweisbar.
Es gab neben den beiden großen öffentlichen Bibliotheken, der seit 1661 bestehenden Königlichen Bibliothek und der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften, 1786 noch weitere 19 Bibliotheken von Schulen, Kirchen und Gesellschaften und insgesamt 58 z.T. sehr umfangreiche Privatbibliotheken .

Rund 36 000 Menschen waren 1802 Gewerbetreibende bzw. "in der Fabrikation Beschäftigte". Der bedeutendste Wirtschaftszweig Berlins war die Textilherstellung und -verarbeitung. 1801 war jeder achte erwachsene Berliner in der Textilindustrie tätig. Der preußische Geheime Kriegsrat Kunth spricht von etwa 11 000 vorhandenen Webstühlen in Berlin im Jahre 1801, die jeweils mit acht bis zehn Personen besetzt seien. So schätzt er die Zahl der durch Weben ernährten Menschen in Berlin auf 50 000, das ist mehr als ein Viertel der Einwohner. Berlin verfügte mit dem Lagerhaus über die zeitweilig größte zentralisierte Tuchmanufaktur in Europa. Berlin war um 1800 "im eigentlichen Verstande ein Fabrikort" geworden. Es gab große Spinnereien, Tuch-, Seiden- und Wollmanufakturen, Manufakturen für Metallwaren und Lederzeug, Gold- und Silbermanufakturen, 3 Zuckersiedereien und die Königliche Porzellanmanufaktur. Fast 1/3 aller Beschäftigten in Berlin nach 1800 waren Jugendliche und Kinder.

In zahlreichen zeitgenössischen Publikationen wird die Geschichte und Entwicklung der Stadt beschrieben: neben der älteren "Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" von Friedrich Nicolai (Berlin 1769), erstellte der Artillerieleutnant Schneider einen "Plan von Berlin und denen umliegenden Gegenden im Jahre 1802". Johann Christian Gädicke gab 1806 das "Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend" heraus. Der Artillerieleutnant Neander von Petersheiden verzeichnete in einem Tafelwerk alle Häuser Berlins mit ihren Eigentümern: "Anschauliche Tabellen von der gesamten Residenz-Stadt Berlin, worin alle Straßen, Gassen und Plätze in der natürlichen Lage vorgestellt und in denselben alle Gebäude oder Häuser wie auch der Name und die Geschäfte eines jeden Eigenthümers aufgezeichnet stehen" (Berlin 1799). Von Zedlitz-Neukirch erschien Berlin 1834 das "Neueste Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam".

Die militärische Niederlage Preußens und die Besetzung Berlins durch französische Truppen (1806-1808) verschlechterte die wirtschaftliche Lage der Stadt enorm. Am 27. Oktober zog Napoleon durch das Brandenburger Tor in Berlin ein. Der Berliner Adel und das Bürgertum hatten Tausende französische Soldaten unterzubringen. Während der 2jährigen Besatzungszeit sollen etwa 12,5 Millionen französische Militärpersonen von der Stadt versorgt worden sein. Große Teile von Berlins Kunst- und Kulturgütern wurden für das Musée Napoléon in Paris geraubt. Mit der Abtragung der Kriegskontributionen war Berlin bis zum Jahr 1861 beschäftigt. Ende 1808 verlassen die französischen Truppen Berlin. Der Hof und die Staatsregierung, die bereits beim Einmarsch der Franzosen zusammen mit wohlhabenden Familien ins Exil gegangen waren, blieben in Königsberg. Erst am 23. Dezember 1809 kehrte die Königsfamilie in die Hauptstadt zurück. Mit den 1807 bis 1811 unter Leitung des Freiherrn vom Stein und des Staatskanzlers von Hardenberg ausgearbeiteten Reformgesetzen sowie mit der Gründung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im Oktober 1810 erlebte Berlin eine Phase des Aufschwungs und der nationalen Begeisterung, die mit dem Krieg Napoleons gegen Rußland wieder stagnierte. Infolge des Preußen aufgezwungenen Militärbündnisses mit Frankreich vom 24. Februar 1812 hatte Preußen für den bevorstehenden Feldzug ein Hilfskorps von 20.000 Mann zu stellen (die Hälfte des damaligen preußischen Heeres) und diente als Aufmarsch- und Versorgungsgebiet für die Grande Armée. Im März 1812 rückten erneut französische Truppen in Berlin ein. Ein Jahr später zogen die Reste der von Rußland geschlagenen französischen Armee aus Berlin wieder ab.
Mit dem Ende der Befreiungskriege begann für Preußen und seine Hauptstadt Berlin eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte.
 

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