Conrad Wiedemann: Über das Projekt "Berliner Klassik" - abgeschlossen

Das Akademienvorhaben "Berliner Klassik" wurde im September 2003, nach dreijähriger Vorbereitungszeit, begonnen und gehört zusammen mit fünf weiteren Vorhaben zum neugebildeten Forschungszentrum "Preußen - Berlin". Wie die meisten BBAW-Vorhaben hat es quellen- und materialerschließenden Charakter, geht jedoch – was in diesem Rahmen eher untypisch ist – von einer geschichtskritischen These aus. Diese These besagt, daß die deutsche Kulturblüte um 1800 nicht einen, sondern zwei herausragende, wenn auch der Erscheinungsform nach sehr unterschiedliche Verdichtungspunkte besitzt, nämlich Weimar und Berlin.

Überraschenderweise liegt das Herausforderdernde der These nicht im qualitativen Vergleich. Dafür ist, Goethes Konkurrenzlosigkeit vorausgesetzt, das Gewicht der Berliner Namen und Leistungen (s.u.) zu groß. Um so brisanter erweist sich der strukturelle Vergleich. Legt er doch neben den erwartbaren Gemeinsamkeiten eine Reihe soziokultureller und mentaler Wesensunterschiede frei, die so gravierend sind, daß sie das gültige Bild von der klassisch-romantischen Mobilisierung in Deutschland von Grund auf verändern. So gesehen bewegt sich das Projekt, dessen Hauptaufgabe in der Dokumentation und Analyse dieser Strukturunterschiede besteht, weitgehend in einer terra incognita. Denn während das klassische Weimar, flankiert vom romantischen Jena, im 19. Jahrhundert zum beherrschenden deutschen Kulturmythos aufstieg und seitdem eine grandiose Deutungsgeschichte erfahren hat, ist das Berliner Geschehen von der nationalen Geschichtsschreibung als Parallel- und Gegenentwurf nie in Betracht gezogen worden. Zwar fehlt es nicht an profunder Einzelforschung, etwa zu den Brüdern Humboldt, Schadow, Rahel Levin-Varnhagen, Kleist, Schinkel, E. T. A. Hoffmann, um nur einige der Leuchttürme zu nennen, doch werden dabei nur selten die disziplinären Grenzen übersprungen und noch seltener Bezüge zum gemeinsamen Chronotopos der großen Stadt hergestellt. Das klassizistisch-romantische Berlin figuriert bestenfalls als nervöser Umschlagsplatz kurrenter Ideen und Formen, dem es aber an Profil und Richtung mangelt.

Wer nach den Ursachen dieser Abschätzigkeit sucht, stößt auf mentalitätsge-schichtliche Stereotypen, welche die Kanonisierung damals wie heute weitgehend unerkannt bestimmen. Ist man sich ihrer gewärtig, dann erbringt die gegenseitige Spiegelung von Weimar-Jena und Berlin eine andere Einsicht, - nämlich daß der Widerspruch zwischen dem pointiert deutschen und dem pointiert westeuropäischen, dem provinzialen und dem urbanen Kulturkonzept spätestens ab 1786 im Lande selbst zum Austrag kam.

 

Weimar und Berlin

Weimars soziokulturelle Einzigartigkeit verdankt sich zweifellos der Entscheidung Goethes, sein künstlerisches Schicksal nicht an eine der größeren Bürger- oder Residenzstädte des Reichs, sondern eines der landestypischen und politisch unbedeutenden Kleinfürstentümer zu binden. Goethe hat dies als Zufallswahl getarnt, doch sind die Anteile der allgemein verbreiteten intellektuellen Bewußtseinslage nicht zu verkennen. Zunächst gab es aktuelle Gründe: die Stagnation der deutschen Bürgerstädte und die französisch parlierende Selbstsucht der größeren Territorialmächte. Tiefer wurzelte allerdings das über Jahrhunderte gewachsene Wunschbild einer "deutschen Libertät", das die Kontinuität des Dezentralismus garantierte und auch den Kleinen ein Lebensrecht versprach. Alles weist darauf hin, daß Goethe der personellen und machtfernen Intimität der kleinen, dynastisch regierten Landschaft die größte kulturelle und moralische Kraft zugestand, die das in Auflösung begriffene Reich zu bieten hatte. An eine Rückzugsbewegung zu denken, wäre jedenfalls falsch. Zwar gleicht seine Weimar-Vision einem kulturellen Reservat, doch ist von Beginn an eine exemplarische Außenwirkung im Spiel. Ihren Höhepunkt erreichte sie in den nationalen und sogar europäischen Führungsansprüchen, die um 1800 vom klassischen Weimar und idealistischen Jena erhoben wurden. Das mag episodisch gewesen sein, zeigt aber die teleologische Reichweite des Projekts. Es ging, wenigstens temporär, um nichts Geringeres als die Ersetzung des Staates durch die Kulturnation. Es zeigt aber auch, daß der Adressat dieser Vision nicht die Zivilgesellschaft, sondern eine sehr spezifische kulturelle Elite war, die sich ihrerseits in Weimar und Jena präfiguriert sah. Impulse für eine moderne Umbildung der Gesellschaft sind von dort jedenfalls kaum ausgegangen. Anstatt dessen hat das idealistische Credo von der "Überlegenheit der Kultur gegenüber der Politik" (Lepenies) eine lange Nachgeschichte in Deutschland gezeitigt.


Das Parallelgeschehen in Berlin hatte einen gänzlich anderen Charakter. Nicht daß sich die intellektuellen Voraussetzungen wesentlich unterschieden hätten. Hier wie dort ging es um eine Individualitätskultur, die ihre Abtönungen aus der je anderen Überformung von Aufklärung und Empfindsamkeit durch Bewußtseinsphilosophie, Idealismus, Klassizismus, Neuhumanismus und Romantik gewann. Doch im Gegensatz zu Weimar und Jena fehlte in Berlin die "hochgradig künstliche" (Blumenberg), d. h. elitäre und regelgeleitete Einfriedung dieses Geschehens. Verglichen mit der Weimarer Dichter- und der Jenaer Gelehrtenklausur war das kulturelle Berlin von der sozialen Kontingenz und den politischen Umbrüchen einer Hauptstadt mit Großmachtsallüren geprägt, in der zudem das Ende einer mehr als 40-jährigen königlichen Kulturautokratie (1786) mit dem Widerhall der französischen Revolution (1789) zusammentraf und fast unkontrolliert das bis dahin gefesselte Emanzipationsbedürfnis seiner bürgerlichen Intelligenz freisetzte. Nimmt man den ungewöhnlich hohen Anteil an intellektuellen Diplomaten und Offizieren hinzu, der sich aus der Ausstrahlung des "roi philosophe" erklärt, und den kleineren, aber besonders fermenthaft wirkenden Anteil der assimilationsbereiten und meist hochgebildeten Juden und Jüdinnen, der sich aus der europäischen Autorität Moses Mendelssohns, des "juif de Berlin", ableitete, dann läßt sich einigermaßen ermessen, wie offen und reich das Personal des "klassischen" Berlin instrumentiert war. Nicht weniger offen und reich war die sich schnell herausbildende Geselligkeitskultur der Salons, Clubs und Gesellschaften, in denen sich dieses Personal sowohl sortierte als mischte. Rechnet man noch die Permanenz der kulturellen und politischen Fehden ein, dann muß die Stadt wohl ziemlich genau Goethes Schreckbild vom "beständigen Taumel" städtischen Erwerbens, Verzehrens und Sich-Vergnügens entsprochen haben, von dem er sich 1797 schon im viel langweiligeren Frankfurt verfolgt glaubte (An Schiller, Aug. 1797).


Erstaunlicherweise ist diese Einstellung nicht umkehrbar. Der Goetheschen Großstadtskepsis, die von der sehr deutschen Liebe zu Überschaubarkeit und Intimität zeugt, entsprach in Berlin, von Ausnahmen abgesehen, kein Großstadtstolz oder gar Großstadtenthusiasmus. Von Voltaires unbedenklicher Entgegensetzung einer aufgeklärten Metropole und einer rückständigen Provinz war man weit entfernt. Die von ihrem Großstadtstatus quasi überraschten Berliner dachten in dieser Hinsicht offensichtlich traditionell. Es gibt keine Liebeserklärungen an die Stadt, wohl aber die üblichen Klagen über ihre Unwirtlichkeit. Und sieht man von Madame de Staël und einigen weimar-geschädigten Publizisten ab, dann fehlt auch der Anspruch, die oder auch nur eine geistige Mitte Deutschlands zu bilden, wie er von Weimar und Jena durchaus erhoben und von vielen Berlinern anerkannt wurde.


Doch dies kennzeichnet nur die Hälfte des Bildes, und zwar die uninteressantere. Denn realiter ist das klassische Berlin das erste deutsche Versuchslabor urbaner Modernisierung. Fast alles, was dort entsteht, bezieht sich direkt oder indirekt auf die Formierung einer Zivilgesellschaft selbstbestimmter Individuen, die dem Staat zwar mit Skepsis gegenüberstehen, aber stets mit ihm rechnen. Das beginnt mit den eigenwilligen Antike-Rezeptionen von Moritz, Langhans, Schadow und Wilhelm von Humboldt und reicht bis zu E. T. A. Hoffmanns "Dualitäts"-Lehre und Schinkels Stadtbaukonzepten. Kommt der Staat ins Straucheln, springt man ihm bei, wie in den patriotischen Wellen der napoleonischen Kriegs- und Reformzeit, doch bleibt ebenso die pro-napoleonische Opposition im Spiel. Auch in der Theorie wird das Ziel der privaten Identitätsfindung weniger ästhetisch als gesellschaftlich, d. h. vom freien Meinungsaustausch und der Vielfalt der urbanen Wirklichkeitserfahrung her, gedacht.


Sucht man nach einem Schlüsselbegriff für diese Einstellung, dann muß er wohl Optionalität heißen. Deine Situation, so lautet das Berliner Credo, ist zwar nicht sonderlich geschützt, doch sie bietet dir Wahlmöglichkeiten in einem völlig neuen Ausmaß. Du kannst deinen Umgang, dein Metier, deinen Wohnsitz, deinen Stil, deine Denkart freier wählen und wechseln als irgendwo sonst, und du kannst deinen Lebensentwurf selbständiger bestimmen als irgendwann vorher. Gemessen an der "Lebensdünne" (Blumenberg), die hinter der Weimarer und Jenaer Geistesfülle steht, muten die Berliner Lebensläufe, Personalunionen und Formexperimente höchst "verwegen" an, um den Ausdruck zu gebrauchen, den Goethe dafür (zweifellos widerwillig) gefunden hat.


Hier setzt der analytische und dokumentarische Auftrag des Vorhabens "Berliner Klassik" an. Denn weder die Bewußtwerdung dieser ersten großstädtischen Bürgerkultur in Deutschland, noch die damit verbundene Herausbildung einer einschlägigen Lebenswelt (Geselligkeit, Publikum, Kritik, Zensur, Reformen, Publizistik, Bildungseinrichtungen, Geschmackspolitik, Boulevard, Religionspolitik, Mobilität, Auftragslage, la cour et la ville etc.) sind bislang aus stadtgeschichtlicher Perspektive beschrieben worden und können es auch nur unter Absehung von üblichen deutschen Sichtweisen.

 

 

Namen und Ideen

Der gedankenlosen Frage, welche Namen und Ideen Berlin denn Weimar und Jena entgegenzusetzen habe (leider oft gehört), ist leicht zu begegnen. Angesichts der Menge des Interessanten fragt sich eher, wo die Grenze der Exzellenz gezogen werden soll. Merkwürdig auch, wie oft man darauf hinweisen muß, daß kulturelle Blütezeiten ("Klassiken") nur ausnahmsweise monokulturell (Literatur in Weimar, Musik in Wien) in Erscheinung treten und die meisten von ihnen (Athen, Rom, London, Paris) metropolitan geprägt sind. Da Berlin, wie immer man zu seiner „klassischen“ Rangerhöhung stehen mag (s. u.), zum Normaltypus gehört, durchläuft meine Namensliste fast alle kulturellen Bereiche, wobei Kenner die ausgelassenen Namen leicht ergänzen können.


Gelehrte: Wilhelm und Alexander von Humboldt, Wolf, Boeckh, Klaproth, Savigny, Niebuhr.

Philosophen: Maimon, Schleiermacher, Fichte, Solger.

Bildende Künstler: Schadow, Langhans, F. Gilly, H. Gentz, Rauch, Schinkel.

Schriftsteller: Moritz, Tieck, Wackenroder, Kleist, A. von Arnim, E. T. A. Hoffmann.

Politiker: F. Gentz, Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Clausewitz.

Musik und Theater: Reichardt, Zelter, Iffland.

Einflußreiche Frauen: H. Herz, R. Levin-Varnhagen, C. v. Humboldt, B. v. Arnim, Königin Luise.


Schwieriger als solches name-dropping ist der Versuch, aus den schier endlosen Berliner Werk-Inventarien ein Ensemble markanter Innovationen zu formieren, das dem Anspruch historischer Nachhaltigkeit standhält. Trotzdem sei er gemacht.


Berlin als Zentralort der Haskala und Eintrittstor der Juden in die säkulare Welt Westeuropas

Moritz' Grundlegung der modernen "Autonomieästhetik"

W. von Humboldts Herleitung bürgerlicher Selbstbestimmung aus der athenischen polis

Langhans' und Schadows Umdeutung des höfischen in einen bürgerlichen Klassizismus (Brandenburger Tor, Prinzessinengruppe)

Moritz' Neudeutung der antiken Mythologie und Festkultur aus der kollektiven Phantasie des Volkes

Tiecks und Wackenroders Grundlegung der deutschen Romantik

Die Ausdifferenzierung des "Unbewußten" bei Moritz, Tieck und E. T. A. Hoffmann

Henriette Herz' und Rahel Levins Herausbildung des radikalliberalen Salons

Ifflands Konzept eines Nationaltheaters für ein integrales Stadtpublikum

Schleiermachers philosophische Neubegründung der Religion aus dem Gefühl kosmischer Unendlichkeit

A. von Humboldts südamerikanische Forschungsreise in weltbeschreibender Absicht

Schleiermachers Begründung der modernen Hermeneutik

Steins und Hardenbergs protodemokratisches Reformwerk

W. von Humboldts Begründung des Humanistischen Gymnasiums und der autonomen Forschungsuniversität

W. von Humboldts Gleichstellungsgesetz für die Juden

Zelters "Singakademie" als Anfang der bürgerlichen Konzertkultur

Niebuhrs Begründung der Historischen Schule aus dem Geist der Quellenkritik

Schinkels historistische Stadtbau-Entwürfe

W. von Humboldts Begründung der Vergleichenden Sprachwissenschaft

E. T. A. Hoffmanns juristische Verweigerung der Demagogenverfolgung


Die Zusammenstellung ist bewußt in keiner anderen Ordnung als der einer ungefähren Chronologie gehalten. Was sie zeigen soll, ist zunächst einmal die dem disziplinären Tunnelblick weitgehend verborgene Fülle synchroner innovativer Ideen und Experimente, von der selbst das ideenreiche Weimar-Jena keine Vorstellung gibt. Die Konsequenz, die sich daraus für das Projekt „Berliner Klassik ergibt, liegt auf der Hand. Alles wird hier darauf ankommen, welches Maß an Interdisziplinarität sich verwirklichen läßt.

 

"Klassik", Klassiker, klassisch

Die Namenswahl "Berliner Klassik", die vielen befremdlich klingt, rechtfertigt sich aus der Doppelsemantik des heutigen Klassikbegriffs. Gemeint ist damit das Nebeneinander einer schwindenden bildungsgeschichtlichen und zunehmenden umgangssprachlicher Bedeutung. Um 1800 verhielt es sich umgekehrt. Die kulturkritische Bedeutung, die im Klassischen einen an der Vorbildlichkeit der griechisch-römischen Antike orientierten Normanspruch sieht, war verbreitet, die umgangssprachliche eher diffus.


Weimar und Berlin waren um 1800 Zentralorte der europäischen Antike-Mode. Über den einschlägigen Vorrang der beiden zu streiten, ist müßig. Wenn Weimar ihn in der Literatur hatte, dann Berlin sicher in der bildenden Kunst. Doch eine solche Vereinbarung sagt nichts über die originelle Vielfalt des klassizistischen Revirements, das sich ab 1788, mit der zeitgleichen Rückkehr Goethes, Schadows und Moritz’ aus Rom, in Weimar und Berlin vollzog. Und zwar mit je ortstypischer Tendenz. Beschränkt man den Blick auf Berlin, so fällt erneut auf, wie übereinstimmend die Antike-Orientierungen des Viergespanns Schadow-Langhans-Moritz-Wilhelm von Humboldt auf die Bürgergesellschaft bezogen sind. Dabei blieb es auch in der Folgezeit. Während die künstlerische Linie sich eindrucksvoll über F. Gilly zum Stadtplaner Schinkel fortsetzte, führte die literarisch-bildungskritische zunächst zur Herausbildung einer glanzvollen Altphilologie (nebst Archäologie) und wenig später über Gedike, Johann Wilhelm Süvern und Johannes Schulze zu Wilhelm von Humboldts Konzepten des Humanistischen Gymnasiums und der forschungsautonomen Universität, in der bezeichnenderweise die Altertumswissenschaft als Leitwissenschaft galt. Spätestens damit hatte sich die klassische Antike als Dauerfundament des preußischen Bildungswesens etabliert.


Die kulturelle Klassizität Berlins läßt sich aber auch ganz anders, nämlich von der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffs her begründen. Was heute fast ubiquitär, von der Wissenschaft über Film und Comicstrip bis zur Turnschuh- und Getränkemode ("cola classic"), mit den Begriffen "Klassiker" oder "klassisch" belegt wird, hat in der Regel nichts mehr mit der klassischen Antike zu tun. Zweifellos dienen sie der überforderten modernen Wissensgesellschaft als pragmatische und qualitatitive Orientierungsmarken. Oder genauer: als "klassisch" bezeichnet der moderne Sprachgebrauch offensichtlich Formen und Ideen, die nachhaltig gewirkt haben oder noch wirken.


Nachhaltigkeiten, die sich vom Antikebezug ablösen lassen, gehen zweifellos auch vom klassischen Weimar und – mehr noch – vom klassischen Berlin aus. So sieht es zunehmend auch die Forschung. Voraussetzung dafür ist unsere Neigung, die Zeit um 1800 als "Sattelzeit", d. h. als eine Epoche der Umformung vieler Traditionsbestände zur Moderne hin, zu betrachten. Zieht man unter diesem Gesichtspunkt noch einmal die obige Innovationsliste in Betracht, dann offenbart sich das Berliner Geschehen fast schlagartig als die Gründungsofferte einer modernen stadtbürgerlichen Kultur für Deutschland. Daß die nationalen Kulturideologen diese Offerte nicht angenommen haben, bedeutet nicht, daß sie heute noch ignoriert werden könnte. Für die globale Verstädterung, die auch Deutschland betrifft, ist das Berlin von 1800 ein wiederzuentdeckender Klassiker.

 

Laufende Arbeiten

Das noch junge und mit nur drei Wissenschaftlerstellen ausgestatte Projekt hat von Beginn an eine weitläufige Dokumentationsarbeit betrieben, die in der ständig aktualisierten Website (www.berliner-klassik.de) teils beschrieben, teils in Form wachsender Datenbanken freigestellt ist. Zum quasi mitlaufenden Teil dieser Arbeit gehören ein Personenlexikon, eine Forschungsbibliographie und ein "Virtueller Stadtplan", der dem Benutzer ein kulturtopographisches Bild der Stadt vermittelt und über Lage und Bedeutung wichtiger Bauten und Wohnplätze informiert. Für die vom Vorhaben regelmäßig veranstalteten Themenkonferenzen wurde eine Publikationsreihe eingerichtet, die bisher zehn erschienene oder im Erscheinen begriffene Bände umfaßt.


Im Zentrum der Planung stehen allerdings archivalische Forschungsprojekte, die die besondere soziokulturelle Chemie und Infrastruktur des Berliner Geschehens erschließen werden. Aus der beträchtlichen Zahl der einschlägigen Desiderate wurden drei ausgewählt, die für die großstädtische Formierung besonders erhellend sind. Es handelt sich um das Theaterpublikum, das Geselligkeitssystem und das Reformprogramm der Kunstakademie.


a) "Das Nationaltheater. Schmelztiegel urbaner Geselligkeit" (Dr. Klaus Gerlach) widmet sich der Theaterstadt Berlin, von der Goethe sagte, sie sei der einzige Ort in Deutschland, "wo ein Publikum beisammen sei". Die Rekonstruktion von Publikumsprofil und Programm basiert auf den bisher unbekannten Inventarien von über 4000 Theaterzetteln (im Netz freigestellt) und ungezählten Theaterkritiken (Auswahl-Publikation im Druck). Den Abschluß wird eine historische Darstellung bilden, die sich vor allem auf die Erschließung von Archivalien stützt.


b) "Geselliges Leben in Berlin 1786-1815" (Dr. Uta Motschmann) dokumentiert die kulturelle Selbstorganisation der Bürgergesellschaft in einer Vielzahl von Vereinen, von denen bislang vorrangig die sogenannten Salons und die Freimaurerlogen erforscht sind. Geplant ist auf der Grundlage umfangreichen Quellenmaterials ein Repertorium aller nachweisbaren Organisationsformen. Ein Pilotprojekt über die einflußreiche „Gesellschaft der Freunde der Humanität“ ist im Manuskript (600 S.) abgeschlossen.


c)"Geschmackspolitik. Die reformierte Berliner Kunstakademie im Kontext von Stadt, Staat und Hof" (Dr. Claudia Sedlarz) rekonstruiert aus den nahezu vollständig erhaltenen Aktenbeständen den weiten Aktionsradius der 1786 reformierten Akademie der Schönen Künste (klassizistische Reform des Kunsthandwerks, Künstlerausbildung, Ausstellungen, Museumspläne etc.). Die Akademie war (neben dem Theater) derjenige Knotenpunkt des Kulturlebens, in dem sich die Interessen des Hofs, der staatlichen Verwaltung und der Bürgerschaft am sichtlichsten überschnitten. Im Entstehen sind ein Dokumenten- und ein Darstellungsband.

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